"Krone"-Interview

Joe Goddard: “Moderner Pop ist unkreativ”

Musik
04.05.2017 16:51

Mit seinem Hauptprojekt Hot Chip ist er Klangtüftler und Beatpoet - als Solokünstler hat Joe Goddard nun die Verantwortung, ein Album in all seinen Facetten zu fertigen und abzubilden. "Electric Lines", sein Solodebüt, bewegt sich stilistisch nicht allzu weit von der Londoner Synthiepop-Band weg, lässt aber dennoch genug Raum, um die eigene Identität hervorzukehren. Wir haben uns mit Goddard vor seinem Auftritt im Wiener Funkhaus über die Beliebigkeit des modernen Pop, verklärte Vergangenheitsrückschauen und den schleichenden Tod der Londoner Musikszene unterhalten.

(Bild: kmm)

"Krone": Joe, auf deinem Solodebüt "Electric Lines" bist du aus deinem Hot Chip-Kostüm ausgebrochen und verinnerlichst im Prinzip alle musikalischen Phasen deiner bisherigen Karriere.
Joe Goddard: Wenn ich vom jetzigen Standpunkt auf den Schreibprozess zurückblicke, dann besteht hier sicher ein kausaler Zusammenhang. Als ich aber daran arbeitete, war das zumindest keine bewusste Denkweise, denn mir ging es vielmehr darum, von Tag zu Tag in möglichst vielen Genres zu experimentieren und ein großes Ganzes daraus zu erschaffen. Am besten lässt sich "Electric Lines" wohl damit zusammenfassen, dass es eine Rückschau auf all die Projekte ist, in denen ich bisher Songs kreierte. Dazu kommen noch die Einflüsse aus meiner Kindheit und Jugend.

Dass du in derart vielen Genres wie Techno, House, Pop, R&B und Co. gewildert hast, war also schon geplant und entstand nicht aus dem Zufall heraus?
Ich wollte einfach nicht zu viel nachdenken und mich nicht selbst in eine bestimmte Richtung drängen. Es ging darum, Spaß zu haben, zu experimentieren und dabei zu einem möglichst guten Ergebnis zu kommen. Ich wollte mich aber niemals in ein Genre zwängen, sondern lieber auf mich hören und nach gut oder nicht gut unterscheiden - unabhängig von der Stilrichtung. Ich bin sehr stolz auf all unsere Hot Chip-Alben und die anderen Dinge, die ich gemacht habe, aber wenn du in seiner Gewohnheitsspirale drinnen bist, fällt es dir sehr oft schwer, deine Kunst vor der Veröffentlichung von außen objektiv zu beurteilen. Manchmal will man einfach fertig werden, um weiterzukommen, ohne sicher zu sein, dass es zu 100 Prozent passt. Das habe ich dieses Mal anders gemacht, weil ich alles viel stärker hinterfragt und kritischer betrachtet habe.

Hast du hier auch gelernt, dass das Experimentieren wichtiger ist als die Suche nach klanglicher Perfektion?
Definitiv. Der Klang des modernen Pop ist zu stark auf Perfektion ausgerichtet. Wenn du dir diese Songs im Radio anhörst, dann sind sie extrem komprimiert, unkreativ, mit extrem viel Autotune versehen und stechen kaum hervor. Egal ob es ein Ed Sheeran- oder Major Lazer-Song ist - sie klingen extrem ähnlich, wenn es um den Rhythmus, die Synthies oder das Schlagzeug geht. Brich diese Nummern auf ihr Wesentliches runter und hör genau hin. Ich wollte ein bisschen weniger auf den Computer und mehr auf analoge Technik, alte Synthesizer setzen. Ich habe sehr viel mit Synths im Studio experimentiert und nicht viel herumgeschnitten oder die Ursprungsideen verändert. Auf Hot Chip haben wir das auch so gehandhabt, aber nicht in diesem Ausmaß wie hier.

Bei Hot Chip arbeitest du mit Alexis Taylor, bei 2 Bears mit Raf Rundell - war es für dich mit "Electric Lines" an der Zeit zu beweisen, dass du auch im Alleingang Erfolg haben kannst?
Das war durchaus ein Ziel. Ich wollte mich als Individuum beweisen. Ich liebe es, mit diesen Jungs zu arbeiten, aber jede Kollaboration besteht aus Kompromissen. Ich wollte einfach wissen, welches Ergebnis herauskommt, wenn ich alleinverantwortlich für meine Entscheidungen bin. Es war schwieriger, Songs fertigzustellen, weil es oft Momente gab, wo ich nicht genau wusste, wie es weitergehen soll. Raf und Alexis sind in dem Bereich ziemlich gut, aber nun konnte ich mich selbst dabei entwickeln. Ich arbeite aber auch auf "Electric Lines" mit vielen Sängern und Musikern zusammen, doch all die Strukturen, Orchestrationen und Zusammenstellungen kommen ausschließlich von mir.

Die Rückkehr zum Hot Chip-Teamwork könnte jetzt schwierig werden…
(lacht) Da wäre Alexis wohl nicht froh. Ich freue mich aber auch wieder auf die andere Seite meiner Karriere, da es hier Schwierigkeiten gab, die mich vor unglaubliche Herausforderungen stellten und die im Team viel leichter zu erledigen gewesen wären. Bei Hot Chip haben wir ein großartiges Band-Setup, weil wir wissen, wie wir zusammenarbeiten. Es ist alles viel simpler.

"Electric Lines" startet mit einem Kinderlacher als Sample. Ist das ein Zeichen von musikalischer Unschuld und Frische?
Das hat durchaus damit zu tun. Es ist ein sehr freundlicher, verträumter und ausgeglichener Synthie-Sound hinter dem Kinderlachen. Ich habe das Lachen in einer Höhle mit meinen Kindern aufgenommen, als wir einen Trip unternommen haben. Sie haben einen Wasserfall gesehen und weil er ihnen so gefallen hat, begannen sie zu lachen. Ich fand, dass es ein schöner Chant war, das Album zu beginnen. Es wirkt auch etwas schräg und schräg zu sein war für mich sehr wichtig für das Album.

Nach welchen Kriterien wählst du Samples aus, die du auf einem Album integrierst?
Das Sample auf "Lose Your Love" ist ein Klassiker und wurde oft verwendet, aber ich liebe es. Ich habe lange nicht gewusst, woher ich es kannte und kam erst später drauf, dass es ursprünglich von einem britischen Hardcore-Jungle-Track stammte. Es fühlte sich aufregend an, dieses Sample, das ich schon immer in meinen DJ-Sets verwendete, auch in einen Song einzubauen, weil so viele Erinnerungen mitschwappten. Ich habe das Sample in meinen Produktionskontext eingebaut, um zu sehen, ob es auch dort funktioniert - ich denke das machen aber die meisten DJs und Soundtüftler. Aus einem Pool von Samples versuche ich die aufregendsten für mich zu finden.

Du hast als junger Mann Geschichte studiert - betrachtest du auch das Erschaffen von Songs aus einem historischen Kontext? Zum Beispiel im Sinne dessen, dass du dich bei deinen Nummern bewusst an der Musikhistorie orientierst?
Durchaus, ja. Ich glaube, so arbeiten die meisten Musiker und Produzenten und da nehme ich mich keinesfalls aus. Mein Ziel ist es, starke Tracks aus der Pop- oder House-Historie mit modernen Techniken zu vermischen. Etwa ein Sample aus den 70ern mit dem aktuellsten Eurorack-Synthesizer zu kombinieren. Ich habe einen postmodernen Zugang zur Musikerschaffung, aber ich denke, dass das bei den meisten in meinem Gebiet der Fall ist. Ich lese zudem viele Bücher über die Geschichte von Motown, Blues, House- oder Techno-Musik. Ich lerne sehr viel daraus und kann das dann umsetzen.

Bist du auch jemand, der einen verklärten "früher war alles besser"-Blick auf die Musikwelt hat?
(lacht) Das ist eine schwierige Frage. Es gibt viele großartige Dinge, die in der Gegenwart passieren. Allein schon die Technologie mit den neuen Synthesizern und Computern räumt dir so viele Möglichkeiten ein, die du in den Glanzzeiten von Disco- oder Pop-Musik niemals zur Verfügung gehabt hättest. Mitte/Ende der 70er-Jahre war die Hochzeit der ganz großen Studios in New York oder Hollywood, wo du die besten Techniker für deine Musik zur Verfügung hattest. Alles war extrem überladen und opulent. Die Alben damals waren gar nicht leicht zusammenzustellen, weil sie extrem aufwändig produziert wurden. Für solche Studios gibt es heute keine Chance mehr, weil niemand das Geld hat, sich so etwas zu leisten. Das ist leider eine Schande, aber man kann es nicht mehr ändern. Auch die Kollaborationen von Musikern haben nachgelassen, dennoch sehe ich die Gegenwart sehr positiv. Ich will keinesfalls einer derjenigen werden, die immer nur der Vergangenheit nachheulen - für mich ist die Zukunft stets mit viel Optimismus verbunden.

Verliert London seine musikalische Identität, nachdem dort die Club-Landschaft immer mehr ausdünnt?
Da ist sicher etwas dran. Vor 20 Jahren war Musik an sich nicht so global. Es gab mehrere Szenen in den einzelnen Städten, heute ist alles mit dem Internet vernetzt und du brauchst deine regionale Umgebung nicht mehr, um up do date zu bleiben. Davon ist natürlich auch eine Weltmetropole wie London nicht ausgenommen. In London werden weniger vermögende Menschen zusehends aus der Stadt gedrängt. Die Konservativen wollen Wohnungen für das maximalst mögliche Geld verkaufen. Jugendzentren und Konzertvenues werden gess nicht gut für die Londoner Musik- oder Kunstszene. Junge Menschen brauchen Platz, um zu experimentieren und zu proben, auch um gemeinsam Musik zu machen und Freundschaften zu schließen. London ist immer noch ein hervorragender Platz für Musik, aber die eingeschlagene Richtung ist leider eine schlimme.

Denkst du beim Komponieren und Songschreiben über solche Dinge nach? Fließen sie in deine Songs?
Das Album ist nicht politisch und die meisten Songs knüpfen nicht einmal annähernd an diese Thematik an. Ich persönlich bin politisch aber sehr interessiert und informiere mich exakt darüber, aber beim Musikmachen geht es mir in erster Linie darum, die Seele der Hörer zu berühren. Wenn sich Menschen in schwierigen Zeiten befinden, sei es persönlich, wirtschaftlich oder beruflich, sollte es Musik geben, in der sie eine Ausflucht finden, sich von ihren Problemen für eine kurze Zeit distanzieren können. Sie sollen dort Hoffnung und Motivation finden - das ist mein Hauptansatz. "Music Is The Answer" beruft sich zu einem kleinen Teil auf Politik, auch wenn es nicht bedeuten soll, dass Musik alle politischen Probleme lösen kann - das wäre ein naiver Gedanke.

Der Albumtitel ist offenbar eine Referenz an einen Kabelsalat, der in einem Studio natürlich unumgänglich ist - andererseits könnte man "Electric Lines" vielleicht aber auch mit politischen oder sozialen Spannungen assoziieren…
Das trifft nicht wirklich zu, aber der Gedanke ist durchaus sinnvoll, das stimmt. Ich bin der Meinung, dass harmoniesüchtige Menschen, die gerne in Gemeinschaften leben und arbeiten, verstärkt den Zusammenschluss suchen sollten, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Speziell in diesen Tagen, wo sich die politischen Mächte immer stärker auf Nationalismus und Entfernung der Gemeinschaft berufen, die Wahlen meist desaströs enden. Ich hoffe sehr stark, dass die Musik zumindest die Kraft hat, positiv denkende Menschen in ihrem Gemeinschaftsgedanken zu unterstützen.

Das Album startet mit der Nummer "Ordinary Madness" und endet mit "Music Is The Answer" - da könnte man durchaus eine kongruente Linie herauslesen, wie ich finde.
Das macht Sinn, aber auch das war nicht geplant. Ich wollte musikalisch einfach eine fröhliche Kollektion aus Songs machen, bei der am Ende das Statement steht, das Musik kraftvoll und positiv auf das Leben einwirken kann. Ich will nicht, dass die Leute ihre Köpfe im Sand vergraben und alles ignorieren, was auf der Welt so passiert. Sie müssen sich informieren und aktiv politisch tätig sein, aber sie brauchen auch Momente des Ausruhens und des Eskapismus. Die Menschen sind derzeit aufgebracht und besorgt. Es herrscht Angst und Alarmismus und all das wird von den regierenden politischen Kräften gefördert. Musikalisch wäre es also ideal, könnte man Eskapismus und Bewusstsein ein einem für das Leben transportieren.

Welche Fragen kann Musik überhaupt beantworten?
Ich bin mit London in einer sehr multikulturellen Stadt aufgewachsen und wie in den meisten Großstädten, kommen die Menschen trotz der verschiedenen Ethnien und Ansichten sehr gut miteinander aus. Man geht gemeinsam aus, tanzt gemeinsam, isst gemeinsam, geht gemeinsam zum Fußball. Ich glaube, dass man einfach wahnsinnig viele Rassenprobleme damit lösen könnte, das man vermischter lebt und Interessen und Hobbys teilt. Das hat oft mit Musik zu tun und Musik an sich ist einfach extrem verbindend.

Ist es für einen Workaholic für dich nicht schwierig, jetzt Vater von Kindern zu sein und nicht mehr zur jeder Tages- und Nachtzeit unabhängig an Sounds schrauben zu können?
Absolut, da hast du total recht. (lacht) Ich habe oft Momente, wo ich spätnachts im Studio arbeiten will, will dann aber auch nicht den Tag verschlafen, wenn meine Kinder Zeit haben und wach sind. Man lernt, dass eine Gutenachtgeschichte manchmal doch wichtiger ist als die Suche nach einem bestimmten Sample. Zudem sind meine Kinder sehr gesund für mich, denn ich arbeite jetzt jeden Tag zwischen 11 und 18 Uhr und sehe sie dann morgens und abends.

Wo sind aus deiner Perspektive heraus nun die größten Unterschiede zwischen "Electric Lines" und deinen Hot Chip-Werken?
Es gibt keine massiven Unterschiede, denn viele dieser Tracks hätten auch auf einem Hot Chip-Album Platz. Bei Hot Chip herrscht das Gefühl, dass alles ein Song werden muss. Hier habe ich mich mehr auf Experimente und die Reise an sich konzentriert. Es gibt nicht immer einen Strophe-Refrain-Modus, sondern auch dissonante Club-Tracks oder überraschende Wendungen. Abseits davon fällt es sogar mir schwer, die Unterschiede zu finden. Im Endeffekt sind all diese Songs meine Babys - nur aus verschiedenen Beziehungen. (lacht)

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