EU muss handeln

“Krone”-Analyse: Acht Chancen nach CETA-Theater

Ausland
27.10.2016 16:52

Der Nervenkrieg bis zur (vorläufigen) Einigung über den CETA-Handelspakt zeigte mit dramatischer Klarheit: Die EU muss sich JETZT erneuern!

Das für Donnerstag geplante Gipfeltreffen zwischen der EU und Kanada war schon geplatzt, der Flug des kanadischen Premiers Justin Trudeau nach Brüssel abgesagt, die Unterzeichnung des CETA-Freihandelsabkommens abgesagt. Nur wenige Stunden später gab es in Belgien eine Einigung im Streit der Regionen über den Pakt, Wege aus dem Dilemma waren gefunden. Aber noch bleiben einige Fragen offen. Fragen, die auch neue Chancen nach diesem Theater bieten.

1. Ist jetzt ein besseres Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada möglich, ein Pakt also, der die Bedenken vieler Menschen berücksichtigt?
Möglich ist das. Nach den Verhandlungen mit der rebellischen belgischen Region Wallonien hieß es, bestimmte Teile des Abkommens seien überarbeitet worden. Da ging es unter anderem um die Sorgen der ländlich geprägten Gebiete, die Nachteile für die Landwirtschaft befürchtet haben. Noch soll es sich jedoch auch nur um eine Art "Beipacktext" handeln, der als Ergänzung zum CETA-Vertrag kommt. Bis das allerdings abschließend beurteilt werden kann, müssen sich die Nebel lichten. Danach müssen alle 28 Mitgliedsstaaten ihre Zustimmung geben. Das ist eine Chance auch für Österreich, Nachbesserungen in den Vertrag hineinzureklamieren.

2. Ist eine Verbesserung bei dem stark umstrittenen CETA-Passus, den Schiedsgerichten, noch drinnen?
Durch den heftigen Widerstand, auch aus Österreich, sind hier schon einige Fortschritte erzielt worden. Die privaten Schiedsgerichte wurden durch einen sogenannten Investitionsgerichtshof ersetzt. Das ist ein internationales Gericht, vor dem Streitfragen im Rahmen des CETA-Vertrags geklärt werden sollen. Die Richter werden von der EU und von Kanada ernannt. Da besteht jedoch einiges Misstrauen, wer diese Richter nach welchem Auswahlverfahren aussuchen wird.

3. Gibt es nach der Verzögerung durch Wallonien noch weitere Chancen, den Prozess bis zur finalen Umsetzung von CETA zu beeinflussen bzw. erneut zu bremsen?
Natürlich, wenn man will. Auch mit der für Donnerstag geplanten, aber vorerst geplatzten Unterzeichnung des Vertrags hätte man sich nur auf eine Art vorläufige Anwendung von CETA zwischen Kanada und Europa geeinigt. Wann immer es jetzt zur Vertragsunterzeichnung kommt: Erst danach beginnt der Ratifizierungsprozess. CETA tritt erst dann vollständig in Kraft, wenn alle 28 nationalen Parlamente in der EU ihre Zustimmung erteilt haben. Selbst optimistische Befürworter von CETA gehen davon aus, dass dieses Verfahren mindestens ein Jahr dauern könnte.

Gleichzeitig laufen mehrere Klagen gegen CETA. In einem Eilantrag hatte Deutschlands Bundesverfassungsgericht entschieden, dass es zur Anwendung des Handelspakts erst nach einer lupenreinen demokratische Legitimation kommen kann. Außerdem haben die deutschen Höchstrichter festgehalten, dass man aus CETA jederzeit auch wieder aussteigen kann. Alle diese Verfahren können Monate, wenn nicht Jahre dauern.

4. Gibt es Aussichten, dass sich das Verhältnis zwischen Europa und Kanada wieder bessern wird?
Aber ja. Das Verhältnis war nie wirklich schlecht. Die scharfe Kritik des kanadischen Premiers Trudeau an Europa gehört zur üblichen Verhandlungsrhetorik. Zudem braucht auch Trudeau einen politischen Erfolg. Kanadas junger Regierungschef erfreut sich zwar höchster Popularität, konnte aber bisher auch wenig konkrete Erfolge vorweisen. Ein gelungener Handelspakt mit der EU wäre ein solcher Erfolg. Zudem weiß Trudeau, dass auch in Kanada nicht immer alle für CETA waren. Zu Beginn der Verhandlungen mit der EU vor sieben Jahren waren das, was in Europa die Wallonen sind, in Kanada die protestierenden Milchbauern in Quebec, die neue Konkurrenz fürchteten.

5. Hat der Widerstand der CETA-Kritiker Einfluss auf künftige politische Entscheidungen in der EU?
Ganz sicher. So gesehen bietet der Zirkus um CETA die vielleicht größte Chance. Viele Fortschritte und Änderungen in letzter Minute wären bei den Vertragsverhandlungen gar nicht möglich gewesen, wenn nicht kritische Bürger, kritische Zeitungen wie die "Krone" und kritische Nicht-Regierungsorganisationen massiven Druck ausgeübt hätten. In Zukunft wissen Spitzenpolitiker in Berlin und Brüssel, dass das Gemauschel in den Hinterzimmern der Macht auf Dauer auffliegt, die Bürger sich eine solche Vorgangsweise nicht mehr länger gefallen lassen.

6. Werden die Stimmen aus kleinen Mitgliedsstaaten in der EU ab jetzt mehr Gehör finden?
Auch das ist sicher ein Ergebnis des CETA-Theaters. Noch zu Beginn des Widerstands, der unter anderem von Bundeskanzler Christian Kern kam, machte sich EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker über "den österreichischen Klamauk" lustig. Mittlerweile dürfte dem selbstbewussten Kommissionschef das Lachen vergangen sein. Der Aufstand der Wallonen dürfte ihm zu viel gewesen sein. Juncker ist in der CETA-Frage seit Tagen abgetaucht. Die Suppe auslöffeln musste zuletzt EU-Ratspräsident Donald Tusk.

Also: Ja, die kleineren EU-Länder gehen gestärkt aus diesem Konflikt hervor. Allerdings muss Kritik an europäischen Vorgängen auch laut und deutlich in Brüssel deponiert werden. Verschämtes Murren nur zu den Medien in der Heimat, wie das oft der Fall war, reicht natürlich nicht aus.

7. Bietet das CETA-Desaster eine Chance zur Erneuerung der EU?
Natürlich, es könnte sogar eine historische Chance sein. Wenn sich der Pulverdampf gelegt hat, sollten alle, die sich die Vorgänge genauer ansehen, gemerkt haben: Das war eine Art Weckruf, die EU zu einer demokratischeren Erfindung zu machen. Wenn weiter nur Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel oder Kommissionspräsident Juncker das Sagen haben, geht die EU endgültig vor die Hunde.

8. Hilft der CETA-Streit auch, die ewigen Streitigkeit in der SPÖ-ÖVP-Regierungskoalition zu beenden?
Das kann sein, muss es aber nicht. Zuletzt zeigten sich Kanzler Kern und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner weitgehend einig. Auch in der CETA-Frage bemühten sich die Chefs der Koalition darum, die unterschiedlichen Positionen nicht zu stark zu betonen. Allerdings haben SPÖ und ÖVP bisher kaum noch eine Chance für Streit ungenützt gelassen.

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